schwarzRot - Nature Morte

 

 

Wer ist Andreij Salou?

 

"schwarzRot - Nature Morte" ist ein Internetkrimi und ein Kunstprojekt von Alexander Kehry und Jürgen Heimbach.

 

Der Text von Jürgen Heimbach wurde vom 22. August bis zum 9. September 2011 im Netz unter www.flickering.de veröffentlicht. Jeden Tag wurden die Leser ein wenig mehr mit dem Leben der Anne Marie de Vries vertraut gemacht.

 

Am Ende der Geschichte macht der Ich-Erzähler eine Entdeckung. In der Geschichte gab es Hinweise auf den Ort dieser Entdeckung. Am 11. September wurde der der Öffentlichkeit gezeigt - eine Installation und ein Tableau vivant.

 

Im folgenden ist der Text zu lesen:

 

 

                                               Nature Morte

 

Es muss schon ein gutes Jahr zurückliegen. Ich wollte die Zeitung gerade zur Seite legen, da entdeckte ich ihr Bild. Ein Photo und ein einspaltiger Artikel. Unter Vermischtes. Letzte Seite. Anne Marie de Vries. Ihr Gesicht in der Zeitung, das Bild einer natürlich schönen Frau, ihr blasser Teint, die tiefschwarzen Haare und der rot geschminkte Mund, mit diesem für sie typisch abwesenden Blick, der nichts suchte, kein Ziel fand, einfach irgendwo verloren ging. Das Photo war sicher schon ein oder zwei Jahre alt, aus dem Archiv, nahm ich an, in einer Drehpause aufgenommen. Die Meldung besagte, dass sie nicht zu den Dreharbeiten ihres neuen Films erschienen war. Unerreichbar, auch ihre Agentin hatte keine Ahnung, wo sie sich aufhielt. Ihr Handy war abgeschaltet. Bei ihrem letzten Treffen, wurde die Agentin in dem Artikel unter dem Photo zitiert, habe Anne Marie mehrmals beteuert, wie sehr sie sich sehr auf diesen neuen Film freue. Sie wäre voller Tatendrang gewesen. Und nicht wenige Leute aus der Branche waren sich sicher, dass dieser Film über eine junge Frau, die sich vom partyfreudigen, Drogen konsumierenden Girlie zu einer erfolgreichen Managerin wandelt, ihr den internationalen Durchbruch bringen würde. Irgendwie war mir beim Lesen des Artikels durch den Kopf geschossen, dass Anne Marie auch ein solcher Weg zu wünschen wäre. Sicher nicht zur Managerin, aber einer Schauspielerin, die ihren Beruf wirklich ernst nahm. Allerdings hatte ich da wenig Hoffnung. Ich hielt ihr Verschwinden damals vielmehr wieder für eine ihrer exzentrischen Kapriolen oder Überdrehtheiten, wie ich sie in der kurzen Zeit, in der ich diese Frau kennen lernte, erlebt hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich verliebt, ein paar Drogen zu viel genommen, einen einzigartig schönen Ort gefunden oder einfach keine Lust gehabt, weil irgendjemand aus dem Projekt ein falsches Wort gesagt hatte. Egal. Sie war weg und ich hatte sie mit einem Mal wieder im Kopf, wo ich doch gedacht hatte, sie für immer vergessen zu haben.

Das erste Mal gesehen habe ich sie, da war ich in der zwölften Klasse. Sie war neu an der Schule, in der neunten Klasse, glaube ich, also etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, eine Exotin, schön und böse, wie es bald hieß, aber nicht bewundernd, sondern eher, wie man versucht, ein wildes Tier zu beschreiben ohne es zu beleidigen, weil es die Worte vielleicht doch verstehen und sich irgendwann dafür rächen könnte. Sie ließ sich nicht vereinnahmen. Ein paar von den älteren Jungs versuchten mit ihr anzubandeln, sie einzuladen und mit ihr auszugehen, aber sie ging auf diese Angebote nicht ein, nein, weniger als das, sie reagierte nicht auf sie, mit einer Herablassung reagierte sie nicht, dass man ihr Verhalten nur beleidigend nennen konnte.

Ich selbst begegnete ihr erst ein paar Tage später. Ich hatte sie bis dahin noch nicht gesehen, nur die anderen von ihr erzählen gehört. Es war der Höhepunkt des Schuljahres, die Theateraufführung, auf die wir seit über einem Jahr hingearbeitet hatten. Die Überraschung unserer Inszenierung war, dass wir drei Personen aus dem Publikum während der Vorstellung auf die Bühne bitten würden, eine kleine Improvisation.

Anne Marie saß vorne, in der ersten Reihe, keine Ahnung, wie sie es geschafft hatte, sich dort einen Platz zu verschaffen, wo sonst nur Lehrer, geladene Gäste und allenfalls der Schulelternbeirat Platz nehmen durften. An diesem Tag kam eine Fähigkeit von Anne Marie zum Ausdruck, die sie auch später immer wieder zeigte: alleine durch ihre Präsenz alle Blicke auf sich zu lenken und den anderen das Gefühl zu geben, dass es sie schmücken würde, wenn sie unter ihnen war. Wir hatten also diese Szene, in der Mark, einer der Darsteller, die drei Zuschauer auswählen würde, die auf die Bühne kommen sollten. Obwohl abgemacht war, dass dies drei Eltern sein sollten, wusste ich sofort, dass er sie nach oben holen würde, als ich sie in der ersten Reihe erkannt hatte. So geschah es auch, und Anne Marie machte aus dieser Improvisation, mit der wir auf die Verfügbarkeit von Menschen für Ideen hinweisen wollten, eine Szene, in der sie uns Schauspieler und auch die Zuschauer manipulierte und dabei selbst zum Mittelpunkt avancierte. Alle auf der Bühne, und vor allem die Jungs, bildeten nur zu gerne die Staffage für diesen Auftritt. Das Publikum war gebannt, erst nach und nach erkannten einige, die ja ihr eigenes Kind dort oben glänzen sehen wollten, was da vor sich ging, und äußerten verhalten ihren Unmut.

Bald war für mich mit der Schule Schluss. Ab und an ergaben sich Kontakte zu Anne Marie, aber eher indirekt, in einer größeren Gruppe. Ich nehme an, dass sie mich überhaupt nicht wahrnahm. Dafür hörte ich umso gespannter zu, wenn die anderen über ihre Eskapaden sprachen, ihre Egozentrik, ihre Ausraster, über ihre destruktiven Aktion erzählten, die oftmals auch etwas Selbstzerstörerisches hatten.

Bis zu der Geschichte mit Ruben hatte ich also kaum mit ihr zu tun. Ruben. Die Geschichte, die mein Leben auf seltsame Weise an das von Anne Marie band, obwohl von diesem Band kein Mensch außer ihr und mir bis heute weiß und das für mich lange Jahre gar nicht mehr bestand. Erst seit ich ihr Bild in der Zeitung gesehen und von ihrem mysteriösen Verschwinden gelesen hatte, war es wieder da. So heftig, dass ich sie danach nicht mehr vergessen, oder besser, verdrängen, konnte.

Von Ruben wollte ich erzählen. Ich war bei einem Freund aus meiner ehemaligen Klasse einige Zeit nach dem Abitur auf einer Feier. Dort hatte ich an diesem Abend mit Clara, der größeren Schwester eines Freundes, rumgeknutscht. Mehr war nicht drin. Sie war in der Trennungsphase von ihrem Lover und nicht zu mehr bereit, wie sie sagte. Ich war schon etwas angetrunken und einfach sauer. Sie stand plötzlich auf, keine Lust auf Diskutiererei, sagte sie, wenn Du jemand zum Vögeln brauchst, such dir eine andere. Vielleicht die Wildkatze.

Ich wusste sofort, wen sie meinte, obwohl ich nicht mitbekommen hatte, dass sie auf der Party war. Mein Blick muss wohl so überrascht gewesen sein, dass Clara mich fort stieß. Ich blieb auf dem Sofa liegen, überlegte, wie ich den Abend weiter verbringen sollte, da hörte ich ein Räuspern. Ich setzte mich auf und erkannte Anne Marie in der Tür, an den Rahmen gelehnt. Sie sah mich an. Eindeutig und unverwandt. Langsam wuchs in ihr cooles Gesicht ein Lächeln. Ich drückte mein Kreuz durch, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, wollte aufstehen, da drehte sie sich um und ging weg. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich wieder bei mir war. Dann sprang ich auf und lief durch das Haus, in dem die Party stattfand. Dass ich Clara, die so sehr um ihre verflossene Liebe trauerte, in den Armen irgendeines viel älteren Typs fand, regte mich nicht auf. Ich wollte, warum auch immer, Anne Marie finden. Dabei war mir klar, dass ich, stünde ich vor ihr, keinen Ton herausbekommen würde. Viel zu sehr fürchtete ich, dass sie mich auslachen würde. Doch irgendein innerer Zwang trieb mich durch die Räume. Und als ich sie schließlich in einem hinteren Verschlag des Kellers fand, mehr zufällig, weil ich ein Geräusch gehört hatte, war ich geschockt und fasziniert zugleich von dem Schauspiel, das sich meinen Augen darbot. Ich wollte es schon der Menge an Alkohol und dem Frust über Claras Weigerung, mit mir intim zu werden, schieben und für Einbildung halten. Deshalb, bevor ich doch Zweifel an dieser Version bekommen sollte, drehte ich mich um, um zu gehen. Doch plötzlich stand Anne Marie neben mir, packte mich mit unfassbar festem Griff am Oberarm und zog mich in den Kellerverschlag zurück, wo sie mir befahl, das mit Ruben, der in ein Eisengestell gefesselt war, zu tun, was sie selbst mit ihm getan hatte.

Ich folgte dieser Frau und tat all das, was sie mir auftrug. Ich fiel in eine Art Trance, einen Rausch, der nicht allein auf die Tabletten und den Stoff, den sie mir gab, zurückzuführen war. Es war etwas anderes, und ich wollte in jener Nacht so wenig wie in den Jahren danach wissen, was es war. Erst mit Anne Maries Verschwinden bekam dieser Damm Risse.

Irgendwann verließ ich den Kellerraum. Ich weiß nicht mehr wann und warum, ob es einen bestimmten Anlass gab oder ein Zeichen, dass das, was da unten geschah, ein Ende gefunden hatte. Ich tastete mich durch den dunklen Keller zur Treppe, die nach oben führte. Dort im Flur fing mich Tageslicht, so hell, dass ich meine Augen zukneifen musste. Keiner der Gäste schien mehr da zu sein, nur das Chaos auf dem Boden und den Tischen zeugte von der nächtlichen Party. Während ich so dastand und meinen Blick durch den Raum schweifen ließ, ohne Gedanken, denn das, was in der Nacht und in dem Keller geschehen war und an dem ich mich aktiv und mit immer größerer Lust beteiligt hatte, füllten mich noch viel zu sehr aus, wurde ich plötzlich von hinten ergriffen und so kraftvoll um meine eigene Achse gedreht, dass ich dem keinen Widerstand entgegensetzen konnte. Ich blickte direkt in das Gesicht von Anne Marie, das nur einen Fingerbreit von meinem entfernt war Sie sah mich mit einem unergründlich tiefen Blick an, legte den Zeigefinger ihrer linken Hand auf meine Lippen, um sie erst sanft zu streicheln und dann mit Hilfe ihres Daumens zu öffnen. Das geschah noch immer wie in Trance, wiewohl ich das Zeichen verstand. Plötzlich spürte ich ihre Lippen auf meinen, dann ihre Zunge, die meinen Mund weiter öffnete, tief in meinen Rachen vordrang und dann blitzschnell zurückgezogen wurde Anne Marie biss mit solch ungestümer Gewalt auf meine Lippen, dass im nächsten Moment meine Unterlippe aufriss und sich mein Mund mit Blut füllte.

Einmal noch blickte Anne Marie mich an. Das war das letzte Mal, dass ich sie lebendig gesehen habe.

Ich ging nach Hause, legte mich ins Bett und schlief lange. Wie eine Ewigkeit kam es mir vor. Drei Tage später las ich in der Zeitung, dass Ruben sich umgebracht hatte. Nach dem Bericht in der Zeitung, der sich auf die Obduktion der Polizei berief, war es ein Suizid. Dennoch warfen die vielen äußeren und inneren Verletzungen Rubens viele Fragen auf.

Sie wurden damals weder mir noch Anne Marie gestellt. Diese unausgesprochenen Fragen waren das Band, das uns aneinander kettete.

Das ist viele Jahre her, ich hatte seitdem nie mehr Kontakt mit ihr, hatte sie wie das Geschehen in dieser Nacht vergessen. Bis zu dem Tag, an dem ich von ihrem Verschwinden las. Zunächst hatte ich dem keine Bedeutung beigemessen. Anne Marie de Vries hatte sich wieder einmal in Luft aufgelöst. Das hatte sie auch während der Schulzeit oft gemacht. So kannte ich sie. Sie würde nach einigen Tagen auftauchen und verwundert darauf reagieren, dass man sie gesucht, vielleicht sogar vermisst hatte. Sie würde sich nicht in die Lage der Verantwortlichen des Films, ihrer Agentin, ihres Produzenten, versetzen können, die Termine und Budgets einzuhalten hatten. Würde man weiter in sie dringen und ihr Vorwürfe machen, würde sie erst völlig verständnislos, dann harsch und schließlich aggressiv reagieren. Und dennoch würde sie am Ende alle um den Finger gewickelt haben, alle würden sich freuen, dass sie sich, zu ihren Bedingungen natürlich, bereit fand, voll einzusteigen. So voll, so voller Tatendrang und einer schier unerschöpflichen Energie, die sie erst alle mitriss, bis sie selbst von einem Moment auf den anderen genug hatte, hinschmiss und der ganze Bettel wieder von vorne losging. Das war oft genug passiert und hatte zu vielen Zerwürfnissen geführt. Es gab Produzenten, die wollten nicht mit ihr arbeiten, aber Anne Marie konnte einem Film ein Gesicht geben, und besonders junge, allerdings auch unerfahrene Filmemacher, gaben sich der Illusion hin, sie entweder in den Griff zu bekommen oder sich die ganze Aufregung durch einen Epoche machenden Film bezahlen zu lassen oder am Besten beides, inklusive einiger heißer Nächte mit ihr.

Aber dieses Mal blieb sie verschwunden. Ich begann mich drei Wochen, nachdem ich die erste Meldung gelesen hatte, tatsächlich zu sorgen. Ich war ein paar Tage weg gewesen und blätterte, wie ich das meist tat, die gesammelten Tageszeitungen durch. Und in diesen Ausgaben fand ich tatsächlich vier oder fünf Nachrichten, dass Anne Marie noch immer verschwunden war und es kein einziges Lebenszeichen von ihr gab, aber der Ton wurde jedes Mal besorgter.

Drogen, wie immer, wurden genannt. Ihr Entdecker, wenn man das so sagen kann, der Produzent Peter Marsfeld, mit dem sie angeblich ein Verhältnis hatte, war befragt worden, aber er hatte keine Ahnung, wo sie stecken oder was der Grund ihres Verschwindens sein könnte. Ebenso wenig wie ihre Agentin, Bernadette Römer.

Mein Interesse an Anne Marie war wieder geweckt. Zunächst besorgte ich mir alle Filme, in denen sie mitgespielt hatte, las sämtliche Berichte in Zeitungen und Magazinen, derer ich habhaft werden konnte. Es ist das Somnambule, das Abwesende, als sei sie nicht in der Szene, was sie auszeichnet und was ihren Frauenfiguren eine besondere Färbung gibt, las ich. Gerade die aufbegehrenden, revoltierenden Frauen, die sie spielt, bekommen dadurch etwas Einzigartiges, das den Betrachter verzaubert und in seinen Bann zieht.

Als ich damit fertig war, versuchte ich Menschen ausfindig zu machen, die mir weiterhelfen konnten und sie, wann immer mir mein Beruf die Zeit dazu ließ, aufzusuchen und mit ihnen zu sprechen. Ich merkte zunächst nicht, wie dieses Suchen mehr und mehr zu einer Obsession wurde.

Ich fand bald heraus, dass ihre Eltern in Budapest wohnten. Anne Maries Vater, Georg Lambertus de Vries, war Niederländer, Geschäftsführer einer Firma für feinmechanische medizinische Geräte, die weltweit operierte, weshalb die Familie daher alle drei bis vier Jahre umziehen musste. Ihre Mutter, Arnika de Vries, war Model gewesen, hatte für einige bekannte Agenturen gearbeitet und dann, kurz vor ihrem Durchbruch, aus Liebe zu Georg Lambertus auf ihre Karriere verzichtet. Andere Kinder als Anne Marie gab es nach meinen Recherchen nicht.

Auf meinen ersten Kontaktversuch, eine Mail an die Firmenadresse von Georg Lambertus de Vries, erhielt ich keine Antwort. Ein zweiter Versuch war ebenso erfolglos. Über die internationale Auskunft ließ ich mir die Telefonnummer der Dependance in Budapest geben und konnte mich bis zu seinem Vorzimmer durchfragen. Weiter kam ich nicht, all mein Bitten und Betteln bei der höflichen und charmanten, aber dennoch unüberwindbaren Dame halfen nichts. Eine Privatnummer konnte ich nicht ausfindig machen. Mein Jagdfieber war plötzlich dermaßen geweckt, dass ich ein paar freie Tage nutzte und mich in ein Flugzeug in die ungarische Hauptstadt setzte. Dort mietete ich mir einen Wagen und fuhr zu der Firma. In dem großen Foyer war eine Tafel mit Photos der Vorstände angebracht, darunter auch das von Georg Lambertus. Ein Mann mit einem schmalen und fein geschnittenen Gesicht und einem Blick, der Härte und Durchsetzungsvermögen ausdrückte. Ich entschloss mich, ihn nicht in der Firma, sondern in seinem Haus anzusprechen, weil ich hoffte, wenn nicht er, dann wenigstens seine Frau mit mir sprechen würde.

Ich hatte Glück, denn noch am selben Tag sah ich ihn aus dem Verwaltungsgebäude kommen und zu seinem Wagen, einem Wissmann-Roadster, eilen.

Ich hatte einige Mühe, dem kleinen und wendigen Wagen zu folgen, zumal de Vries mehr als zügig fuhr. Zweimal dachte ich ihn im dichten Budapester Verkehr verloren zu haben, bis ich ihn an der nächsten Ampel eingeholt hatte.

Er bewohnte ein kleines Haus in einem Vorort. Ich stellte den Mietwagen in einiger Entfernung auf der anderen Straßenseite ab und beobachtete das Gebäude. Bevor ich den entscheidenden Schritt tat und an der Tür schellte, wollte ich sicher sein, dass Arnika de Vries sich im Haus aufhielt.

Lange Zeit blieb es ruhig, kein Zeichen von Georg Lambertus und nichts von Arnika. Ich wurde nervös, denn der fremde Wagen in der kleinen Straße war sicher schon einigen Leuten aufgefallen, zumal ich keine Anstalten machte, das Gefährt zu verlassen. Mehrere Fußgänger, die vorbeigekommen, hatten neugierig in das Innere des Autos geschaut.

Ich starrte zu dem Haus herüber und fragte mich, warum ich so viel Energie und auch Geld daran setzte, mit Anne Maries Eltern zu sprechen?

Es war, glaube ich, dieses Erlebnis in dem Keller, das durch Anne Maries Bild in der Zeitung und der Nachricht ihres Verschwindens etwas ausgelöst hatte. Ich wollte wissen, was damals wirklich passiert ist und warum Ruben sich umgebracht hatte. Wie ich daran mittun und es dann so völlig vergessen konnte?

Während ich immer länger vor dem Haus von de Vries wartete, überkamen mich auch Zweifel an meiner ganzen Aktion und ich überlegte, ob es nicht besser wäre weg zu fahren, als ein weißer Prius in die Straße sich näherte und in die Einfahrt bei de Vries einbog. Es dauerte eine Weile, dann entstieg dem Wagen eine Frau, und mir sofort klar, dass es sich um Arnika de Vries handeln musste. Den gleichen aufrechten und stolzen Gang wie Anne Marie, nur dass diese Frau größer war und eine feinsinnigere Schönheit ausstrahlte. Das Wilde, das ihre Tochter hatte und das schon von weitem zu spüren war, besaß diese Frau in einer anderen, sehr kontrollierten Weise.

Von der Rückbank nahm sie zwei Tüten, schlug mit dem Fuß die Tür zu und ging ins Haus. Ich wartete fünf Minuten, dann stieg ich aus meinem Mietwagen und machte mich auf den Weg. Ich war damals sehr aufgeregt, muss ich zugeben, dabei wollte ich diesen beiden Menschen nur ein paar Fragen über ihre Tochter stellen. Als ich den Klingelknopf betätigt hatte, wurde das Läuten von einem heißeren Bellen beantwortet, das, wie gut zu hören war, sich schnell der Tür näherte.

Still, Freddie, hörte ich eine Frauenstimme, und tatsächlich stellte der Hund augenblicklich das Bellen ein.

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und ich sah in ein solch schönes und stolzes Gesicht, dass es mir für einige Sekunden die Sprache verschlug.

Ja, bitte, was wollen Sie, fragte mich Arnika de Vries auf Deutsch, während der Hund, ich glaube, es war ein Landseer, mich neugierig betrachtete.

Ich möchte mich über ihre Tochter unterhalten, fand ich endlich meine Sprache wieder.

Anne Marie?, war ihre Antwort, und nur einen Augenblick später hörte ich energische Schritte, die schnell näher kamen.

Waren Sie das, der versucht hat, mich im Büro anzurufen?, fragte Herr de Vries, ohne mich zu begrüßen. Sein Blick drückte eine Mischung aus Zorn und Verachtung aus.

Ich nickte und wollte erklären, warum ich mit ihm und seiner Frau über seine Tochter sprechen wollte, aber er ließ es nicht dazu kommen.

Wir haben Ihnen nichts zu sagen. Ich möchte Sie bitten, augenblicklich unser Grundstück zu verlassen, sonst rufe ich entweder die Polizei oder lasse meinen Hund los. Sie können wählen, was Ihnen lieber ist.

Mir war klar, dass Georg Lambertus de Vries es genauso meinte, wie er das sagte und dass er ohne mit der Wimper zu zucken seinem Hund den Befehl gegeben hätte, sich auf mich stürzen.

Ich habe zwar keine Angst vor Hunden, aber mich auf einen Kampf mit diesem Riesenvieh einzulassen, verspürte ich wenig Lust. Doch so schnell wollte ich nicht aufgeben.

Ich bin nicht von der Presse. Ich kenne Ihre Tochter von der Schule …

Weiter kam ich nicht.

Freddie, zischte Herr de Vries und sofort spannte sich der Körper des Tieres.

Herr und Frau de Vries würden nicht mit mir sprechen, deshalb zog ich mich zurück. Ich hatte mich noch keine fünf Meter von der Tür entfernt, hörte ich schon, wie sie ins Schloss fiel. Ich ging zurück zu meinem Wagen, lehnte mich an die Fahrertür und sah zu dem Haus herüber. Dass sie so allergisch auf meine Nachfragen reagierten, reizte mich.

Während ich über mein weiteres Vorgehen nachdachte, stand plötzlich ein älterer Herr neben mir. Ich war so in meine Gedanken versunken gewesen, dass ich sein Näherkommen nicht bemerkt hatte.

Was ich von den de Vries gewollt hätte, fragte er, ohne sich vorzustellen, in einem halbwegs passablen Englisch.

Ich war so überrascht, dass ich nicht gleich antworten konnte.

Ob ich nach der Tochter suche, fragte er weiter.

Ich nickte.

Da werden Sie von denen nichts erfahren, führte er weiter aus. Die Tochter existiert für sie nicht mehr.

Warum, fragte ich ihn.

Kommen Sie, forderte er mich auf. Wenn Sie mich einladen, erzähle ich es Ihnen.

Ich bin mit ihm gegangen. Mir war damals in Budapest klar gewesen, dass ich von Herrn und Frau de Vries nichts erfahren würde, da hatte ich keine Zweifel. Das Geld, das ich für den Flug und die Übernachtung ausgegeben hatte, war weg. Da kam es auf ein Essen mehr oder weniger auch nicht mehr an.

Der Mann, der sich als Stani vorstellte und aussah wie die Mischung aus einem Abenteurer und Obdachlosen, setzte sich selbstverständlich neben mich auf den Beifahrersitz und dirigierte mich durch die Stadt. Dem Restaurant, zu dem er mich lotste, war von außen anzusehen, dass es nicht billig war. Ich musste einen Moment gezögert haben, als wir den Wagen verließen und er mit seinem ausgestreckten Arm auf die große Glasfront zeigte, hinter sich das Restaurant befand, denn er fragte sogleich mit einem gewissen Unmut in der Stimme, ob ich nun etwas über Anne Marie de Vries erfahren wolle oder nicht.

Jetzt zögerte ich bewusst einen Moment, damit dieser Stani nicht dachte, dass ich jeden Preis für seine Informationen zu zahlen bereit wäre. Er nahm das aber gar nicht wahr, sondern ging voran und hatte bereits, als ich das Restaurant betrat, an einem Tisch Platz genommen. Es war noch recht früh am Abend, die meisten Tische waren noch unbesetzt. Trotzdem zog ich mir den zornigen Blick eines nahe der Tür postierten Kellners zu. Wahrscheinlich hätte ich warten müssen, dass er mich an meinen Platz führt. Ich ignorierte den Mann, weil ich viel zu neugierig war, was dieser Stani mir zu berichten hatte und ob ich mich beim Begleichen der Rechnung ärgern musste oder einen Schritt weiter gekommen war.

Doch Stani ließ sich Zeit. Er bestellte sich einen Aperitif, dann ein Menü (immerhin nur drei Gänge) und schließlich zu jedem Gang einen Wein. Bis zum Hauptgang hielten wir Smalltalk und Stani wich sehr geschickt meinen Versuchen, unser Gespräch auf Anne Marie zu lenken, aus. Dann erfuhr ich warum Georg Lambertus und Arnika de Vries nicht über ihre Tochter sprechen wollten.

Für sie beide war ihre Begegnung die große Liebe und es stand für sie außer Frage, dass sie mehrere Kinder bekommen und aufziehen würden. Alles schien sich auch in ihrem Sinne zu entwickeln. Anne Marie kam auf die Welt und schon ein gutes Jahr später war Arnika wieder schwanger. Jedoch verlor sie das Kind kurz vor der Geburt. Durch die dabei entstandenen Komplikationen war Arnika de Vries unfruchtbar geworden, ein Schock für die die Eltern. Zunächst suchten sie Trost in der Liebe zu Anne Marie, aber schon bald merkten sie, dass die allein ihr Leben nicht ausfüllte. Sie suchten nach einem Kind, um es zu adoptieren. Durch Herrn de Vries’ Beziehungen und seinen guten Leumund konnten sie sich schnell für einen ein halbes Jahr alten Jungen entschieden, dessen Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren und dessen Großeltern zu alt waren, um das Kind aufzuziehen. Der Bruder der verunglückten Frau fuhr zur See und kam ebenfalls als Erzieher nicht in Frage.

Alles schien bestens, der Kleine, der Jan Justus hieß, fühlte sich schnell heimisch bei seinen neuen Eltern, doch bald mischten sich erste trübe Wolken in das Bild der fröhlich-glücklichen Familie. Jan Justus zog sich zurück, saß häufig zusammen gekauert in seinem Zimmer und reagierte dann aggressiv auf Versuche sich ihm zu nähern.

Die Eltern suchten Fachärzte und Psychologen auf. Erst nach über einem Jahr kam einer von ihnen auf die Idee das Verhältnis von Anne Marie zu ihrem kleinen Bruder zu hinterfragen. Arnika und Georg Lambertus waren vor den Kopf geschlagen, wehrten sich gegen Unterstellungen, dass ihre geliebte, wenn gleich exzentrische Tochter, die überall sofort alle Blicke auf sich zog, auf welche auch immer geartete Weise einen negativen Einfluss auf Jan Justus haben könnte. Trotzdembegannen sie ihre Tochter mit anderen Augen zu sehen. Aber obwohl sie immer mehr Hinweise fanden, dass Anne Marie ihren Bruder bedrohte und ihm körperliche Schmerzen zufügte, wollten sie das lange Zeit nicht wahrhaben. Währenddessen zog der Kleine sich immer mehr in sich zurück.

Anne Marie war gerade sechzehn geworden und der kleine Jan Justus stand vor seinem achten Geburtstag, da stürzte er vom Dach ihres Hauses in Kopenhagen. Die Eltern waren erschüttert, und es wurde nie eindeutig geklärt, ob Jan Justus beim Spielen abgestürzt war oder ob er sich selbst umgebracht hatte.

Dass Anne Marie von dem Tag an wieder lebensfroher und offener war, fiel ihnen zwar auf, aber sie glaubten, dass es darauf zurückzuführen war, dass sie nun wieder die alleinige Empfängerin der elterlichen Liebe war und sie so mit dem Schmerz umging. Wie blind elterliche Liebe machen kann … Dass ihre Tochter ursächlich etwas mit dem Tod ihres Bruders zu tun haben könnte, diesen Gedanken ließen sie nicht zu.

Kurz darauf zog die Familie nach München ... Das war die Zeit, als sie auf meine Schule kam und der Vorfall mit der Schultheateraufführung passierte.

Durch die Arbeit von de Vries und die vielfältigen Aktivitäten, die Frau de Vries aufgenommen hatte, Stani nahm an, um sich abzulenken, kümmerten sich die beiden nur wenig um ihre Tochter und jeder Versuch, sie in ihr Familienleben einzubinden, scheiterte an Anne Maries beharrlicher Weigerung.

Sie hatte gerade ihr Abitur gemacht - wie sie das trotz ihrer vielen Fehlstunden geschafft hatte, wusste auch Stani nicht zu erklären - es war uns Schülern damals schon ein Rätsel und Anlass für die wildesten Mutmaßungen und Spekulationen gewesen, da wurde ihr Vater nach Kairo versetzt. Sie blieb in München, weil sie wie ihre Mutter Model werden wollte.

Erst mit Stanis Erzählung fiel mir wieder ein, dass es damals hieß, dass Anne Marie Model werden wollte. Und niemand zweifelte daran, dass sie das bei ihrem Aussehen, ihrem Auftreten und ihrer Durchsetzungskraft auch schaffen würde.

Aus irgendeinem Grund, den auch Stani nicht kannte, gab sie diesen Berufswunsch bald auf, um Schauspielerin zu werden. Gleich ihre erste Bewerbung an der Schauspielschule in München war erfolgreich, doch im dritten Semester wurde sie der Schule verwiesen. Unsoziales Verhalten, Nichteinhalten der Regeln sowie ein Eklat, weil Anne Marie in der Aufführung vor der versammelten Lehrerschaft der Schauspielschule sich mit einem Mitstudenten zu streiten begann, der in ihren Augen irgendetwas nicht richtig gemacht hatte. Aber ein Produzent, Peter Marsfeld, hatte sie bei einer Probeaufführung gesehen. Er war von ihrer Energie und ihrer Präsenz völlig begeistert und engagierte sie kurz darauf für einen kleinen, wilden Film, der ein Erfolg wurde. Nicht in dem Sinne, dass er Millionen einspielte, aber er fand sein Publikum und begeisterte die Kritik. Vor allem Anne Marie.

Sie begann dann mit Marsfeld, der über zwanzig Jahre älter als sie war, eine Affäre, es kamen, wusste Stani noch zu berichten, weitere Engagements, mal mehr, mal weniger erfolgreich, was aber in der Folge hängen blieb, waren ihre Eskapaden, ihre Affären und vor allem ihre Abstürze.

Stani hatte sein Dessert beendet, wischte sich den Mund mit der Stoffserviette ab, um einen abschließenden Schluck Rotwein zu trinken, da fragte ich ihn, woher er das wusste und warum er mir das erzählte.

Er sah mich kurz an, trank noch einen Schluck und erklärte mir, dass er der Onkel von Jan Justus ist, der damals zur See gefahren war und als Erziehungsersatz nicht in Frage kam, zumal damals niemand wusste, wo er sich gerade aufhielt.

Ich sah den Mann fragend an.

Ja, antwortete er, als ich vor etwa fünf Jahren die Seefahrt an den Nagel gehängt habe, erfuhr ich erst von dem Drama, das sich vor über zehn Jahren abgespielt hatte. Ich hatte mit meinen Eltern und meiner Schwester nie einen sonderlich engen Kontakt gehabt und nachdem ich zum ersten Mal aufs Schiff ging, brach er total ab. Ich brauchte bei meiner Rückkehr aufs Festland eine Aufgabe und die war, dass ich herausbekommen wollte, was damals wirklich geschehen ist.

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch gar nicht erfahren hatte, warum die de Vries nicht über ihre Tochter sprechen wollten. Ich stellte Stani die entsprechende Frage.

Er kratzte sich am Kinn und schien zu überlegen, was er mir sagen wollte. Oder konnte. Endlich hatte er sich durchgerungen.

Im de Vries’schen Haushalt, begann er erst zögerlich, dann immer flüssiger zu erzählen, hatte sich über die Jahre und durch die vielen Umzüge eine Unmenge von Kisten, Kartons und Koffern angesammelt. Was nicht gebraucht wurde, wurde in Georg Lambertus’ Elternhaus in der Nähe von Amsterdam untergestellt. Darunter auch die Sachen, die Anne Marie zurückgelassen hatte. Als die Eltern von Herrn de Vries verstorben waren, beschlossen die beiden, das Haus am Meer zu ihrem Domizil zu machen, in das sie sich in ruhigen Zeiten zurückziehen konnten und das auch ihr Alterswohnsitz werden sollte. Irgendwann begann Arnika de Vries aufzuräumen und dabei fiel ihr auch eine Kiste mit Zeichnungen und Bildern von Jan Justus in die Hände. Zusammen mit Aufzeichnungen und Tagebuchnotizen von Anne Marie, die sie in einem anderen Koffer fand, kam sie zu der Schlussfolgerung, dass ihre Tochter für den tragischen Tod des Sohnes verantwortlich war.

Darauf angesprochen verhöhnte die ihre Mutter, beschimpfte und beleidigte sie und verschwand, ohne irgendein Zeichen zu hinterlassen. Die de Vries’schen Eheleute schworen, nie mehr mit ihrer Tochter zu sprechen und auch nicht mehr über sie. Sie tilgten sie völlig aus ihrem Leben.

Woher wissen Sie das, fragte ich Stani, denn wenn sie nicht mehr über ihre Tochter sprechen wollten, so würden sie diesem Mann sicher auch nicht diese Geschichte erzählt haben.

Der Mann, der mir gegenübersaß und gerade einen Kaffee bestellt hatte, zuckte mit den Schultern.

Ich hätte Ihnen das nicht erzählen müssen, sagte er, es war ein Entgegenkommen meinerseits, das ich bitte mit Respekt behandelt sehen will.

Und mit einem üppigen Mahl, das ein riesiges Loch in mein Portemonnaie reißen wird, dachte ich bei mir.

Das einzige, was er mir noch in Sachen Anne Marie verriet, war die Adresse von Peter Marsfeld, ihrem Produzenten und Entdecker, und den Namen und die Telefonnummer von dessen ehemaligem Assistenten.

Ein paar Minuten hielten wir noch Smalltalk, dann bestellte Stani einen Brand, dessen Frucht ich nicht mehr weiß, stand auf, trat vor mich, reichte mir die Hand, bedankte sich für die Einladung und ging. Mich ließ er mit einer horrenden Rechnung und einer Geschichte zurück, die ich nun glauben konnte oder nicht.

Ja, warum sollte ich sie auch nicht glauben? Ich musste! Sie war mein einziger Anhaltspunkt im Moment. Aber ich spürte, dass es kein Zurück mehr gab. Ich wollte jetzt nicht mehr umkehren. Ich wollte wissen, wo Anne Marie war, oder zumindest, warum sie verschwunden war.

Zunächst suchte ich die Schauspielschule in München auf, an der Anne Marie drei Semester belegt hatte, bevor sie relegiert wurde. Raimund Krauss, der Mann, mit dem ich dort sprach, konnte mir nicht viel mehr sagen, als ich schon wusste. Er erwähnte Anne Maries Unzuverlässigkeit, ihre Versuche, Kommilitonen für ihre Zwecke einzuspannen, ihre Affären, die oft zu Eklats vor den anderen führten bis hin zu jenem Ereignis, das zu ihrer Exmatrikulation geführt hatte. Dennoch hatte ich Zweifel, dass Krauss mir die ganze Wahrheit sagte, aber so sehr ich auch dahinter zu kommen versuchte, es gelang mir nicht.

Erst bei meinem nächsten, das heißt eigentlich, um ganz genau zu sein, meinem übernächsten Gesprächspartner kam ich einen Schritt weiter.

Ich rief bei dem Produzenten Peter Marsfeld an, um meinen Besuch anzukündigen und erklärte, dass es um Anne Marie de Vries gehe. Ich hätte aus meinen vorherigen Erfahrungen wissen müssen, dass es ein Fehler war, ihren Namen zu früh zu nennen.

Ich konnte meine Nachricht nur auf dem Anrufbeantworter hinterlassen und bat um Rückruf, auf den aber auch nach zwei Tagen noch wartete. Ich wiederholte den Anruf, mit dem gleichen Ergebnis. Erst beim dritten Versuch bekam ich eine Frau an der Strippe, die sich als Frau Marsfeld vorstellte. Sie klang sehr resolut und wollte sofort wissen, ob ich der Mensch sei, der wegen dieser Person anrufe. Bevor ich mir auch nur einen Gedanken darüber machen konnte, warum sie „diese Person“ gesagt hatte, fauchte sie in den Hörer, dass ich es nie mehr wagen sollte, sie oder ihren Mann in dieser Angelegenheit zu behelligen. Und legte auf. So schnell wollte ich mich nicht abwimmeln lassen und versuchte es erneut, aber dieses Mal wurde nicht abgenommen. Ich erklärte auf dem Anrufbeantworter den Grund für mein Interesse, aber mir war schon während des Sprechens klar, dass Marsfelds Frau mich nicht zurückrufen würde.

Ich hätte jetzt versuchen können, in der Produktionsfirma von Peter Marsfeld anzurufen, aber ich war ziemlich sicher, dass ich auch da nicht weiterkommen würde. Ich grübelte, was vorgefallen sein mochte, dass die Ehefrau des Filmproduzenten dermaßen heftig reagierte, konnte aber außer Eifersucht oder Ähnlichem keine Erklärung finden. Doch das schien mir zu einfach oder banal.

Also versuchte ich mein Glück bei dem ehemaligen Assistenten von Marsfeld, dessen Nummer Stani mir ebenfalls gegeben hatte. Ich bekam ihn gleich an den Apparat und wenn er auch zunächst skeptisch klang und zurückhaltend auf meinen Wunsch reagierte, mit mir über Anne Marie de Vries zu sprechen, so ließ er sich schließlich doch zu einem Treffen überreden. Da er gerade mit einem Filmprojekt in Hamburg beschäftigt war, musste ich im Zug quer durch die Republik reisen.

Während der Zugfahrt hatte ich die Zeit, mir über das, was ich da tat, Gedanken zu machen. Meine Nachforschungen kosteten schließlich Geld und Zeit.. Ich fragte mich in diesen Stunden mehr als einmal, warum ich mir diese Mühe machte und ob sich der Aufwand überhaupt lohnte. Am Ende würde sich herausstellen, dass Anne Marie eine überspannte Frau und Schauspielerin war, wie es sicher viele gab. Doch dann rief ich mir mein Erlebnis mit ihr in dem Keller und Stanis Erzählungen ins Gedächtnis, und vorausgesetzt, er hatte mir kein Märchen erzählt, hatte ich es bei Anne Marie mit einer Art Borderlinerin zu tun, oder wie immer man in der Psychologie ihr Verhalten erklären würde. Und irgendwie wollte ich auch nicht auf halber Strecke aufgeben. Dass es so viele Menschen gab, die mehr als allergisch auf den Namen Anne Marie de Vries reagierten, stachelte meinen Ehrgeiz, sie zu finden, noch mehr an.

Ich traf Rüdiger Altmann, so der Name von Marsfelds ehemaligem Assistenten, in einem pakistanischen Restaurant an der Grindelallee in Hamburg. Zum Glück nicht in der Preisklasse wie das Restaurant in Budapest, und Altmann machte eine Einladung auch nicht zur Vorbedingung, dass er etwas über Anne Marie erzählte. Ich würde also am Ende des Abends entscheiden können, ob das Essen auf mich ging oder nicht.

Altmann, eher klein und mit einer Outdoorjacke und einer Hose mit vielen Verstaumöglichkeiten bekleidet, war, stellte ich schnell fest, ein unkomplizierter Typ. Schulabbrecher, dann irgendeine kaufmännische Lehre, Abendschule, dabei mit Film in Berührung und nicht mehr davon losgekommen. Er hatte sich wirklich von unten hoch geschuftet und arbeitete nun als Produktionsleiter bei einer gar nicht so kleinen Firma in Hamburg, die hauptsächlich fürs Fernsehen arbeitete. Er bestellte sich einen Tee, ich nahm ein Bier und erklärte ihm, dass ich mehr über Anne Marie de Vries erfahren wollte, weil sie eine ehemalige Klassenkameradin von mir gewesen war, schon damals eine ungewöhnliche Frau und dass in mir als Journalist nach dem Lesen des Berichts über ihr Verschwinden ein berufsmäßiges Interesse geweckt worden war. Meine Erlebnisse mit ihr und auch das, was ich bislang erfahren hatte, verschwieg ich.

Altmann erklärte mir kurz, dass er etwa zwei Jahre lang für Marsfeld gearbeitet hatte, kurz nachdem der Anne Marie bei einer Vorstellung der Schauspielschule gesehen hatte. Ihm war gleich das Talent dieser jungen Frau aufgefallen, das sich kolossal von dem ihrer Kollegen und Kolleginnen abhob. Selten, so hatte Marsfeld ihm in einer ruhigen Stunde, als sie sich besser kennen gelernt hatten, dargelegt, habe er so ein Talent gesehen. Sie bewege sich so natürlich und mit einer solchen Präsenz vor der Kamera, wie er es noch nie erlebt hatte. Er glaubte, dass sie das Potential zu einem internationalen Filmstar hatte. Die Franzosen, erklärte er mir, liebten solche Frauen. Aber Anne Marie war nicht lenkbar. Altmann schätzte, dass sie sich gar nicht bewusst weigerte, die ihr zugedachte Rolle zu spielen, sie konnte es einfach nicht.. Das ist natürlich fürs Filmgeschäft auf die Dauer nicht tragbar, zumal sie damals nicht die Bekanntheit hatte, dass all die Strapazen und Kosten und der Stress, die aus ihrem Verhalten entstanden, durch den Erfolg kompensiert worden wären.

Ich nahm zunächst an, dass dies auch der Grund für den Bruch zwischen Marsfeld und Anne Marie war, und dass die Enttäuschung auf seiner Seite so groß gewesen war, dass er sich von ihr trennte. Das Bild, das Altmann mir von seinem ehemaligen Chef zeichnete, hätte dazu gepasst. Auch wenn er noch so große Stücke auf sie hielt, irgendwann war der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr ging. Genau so stellte ich es mir vor, als Altmann bei seinem dritten Tee und ich bereits bei meinem vierten Bier angelangt war. Ich hatte auf seine Empfehlung ein Lammgericht vor mir stehen und zur Hälfte verzehrt, als mein Gegenüber zu dem wirklich Interessanten und Neuen kam.

Marsfeld und Anne Marie hatten etwa eineinhalb Jahre zusammen gearbeitet und waren gerade in den Dreharbeiten zu einem Film über einem Mutter-Tochter-Konflikt. Sie war seinerzeit etwa sechsundzwanzig, er doppelt so alt und hatte so eine Art Vaterrolle übernommen. Altmann war sich übrigens, im Gegensatz zu Stani, ganz sicher, dass die beiden keine Affäre miteinander gehabt hatten. Er und Anne Marie hatten mal wieder Krach, weil er sein Budget und die Stimmung am Set im Hinterkopf hatte, also musste er oftmals eingreifen. Aber für ihre Verhältnisse nahm sie von Marsfeld viel an, schmollte, lief weg, schmiss alles hin, aber sie kehrte stets zu ihm und ans Set zurück.

Dann verliebte sich Marsfeld in Greta Bauer, die Darstellerin der Mutter, eine damals gestandene Schauspielerin von knapp vierzig Jahren, die seine Gefühle erwiderte.

Nicht viel später heirateten die beiden und es wäre alles gut gewesen, wenn nicht Gretas Eifersucht ins Spiel gekommen wäre. Denn das, was die beiden Damen auf der Bühne spielen sollten, wurde bald bittere Realität. Eifersucht und Rivalität bestimmten die Stimmung am Set und Anne Marie machte sich einen Riesenspaß daraus, Greta Bauer in ihrer Eifersucht anzustacheln und in dem Glauben zu lassen, dass sie ein Verhältnis mit Marsfeld hatte und dass da noch immer etwas lief.

Ob sie ein Verhältnis hatten? Marsfeld Anne Maries Liebhaber war?

Woher soll ich das wissen? Stani sagte ja, Altmann war sich sicher, dass dies nicht der Fall war. Das gerade machte die Eifersucht ja umso grotesker.

Der Film mit den beiden Damen wurde ein Erfolg, kommerziell, weniger aus künstlerischen Gründen. Auch die Presse glaubte nur zu gerne, dass Anne Marie was mit Marsfeld hatte und spekulierte ausführlich darüber, wie die Neue, die ja fast fünfzehn Jahre älter war, damit umginge. Anne Marie war für die Presse natürlich die interessantere Person: skandalfähiger und aufregender. Das machte Greta zusätzlich zu schaffen, wenn sie ständig von ihrer Rivalin lesen und das Gefühl bekommen musste, dass die die aufregendere und attraktivere Frau sei. Altmann meinte, dass die Zeitungen und Fernsehberichte so etwas wie der Spiegel waren, der Greta immer wieder antwortete, dass Anne Marie die schönere im Land war. Greta hatte sich so in ihre Eifersucht hineingesteigert, dass sie seinen Beteuerungen, dass da nichts ist und nie gewesen war, keinen Glauben schenkte und ihm vorwarf, dass die beiden sich weiter hinter ihrem Rücken trafen.

Altmann glaubte, dass Marsfeld Greta aufrichtig liebte und keine andere Lösung sah, als sich von Anne Marie nicht nur als Schauspielerin, sondern auch als väterlicher Freund zu trennen. Allerdings sagte Altmann, mit dem ich mich nach dem Essen auf das „Du“ einigte, also Rüdiger hatte den Verdacht, dass Greta den beiden nachstellte.

Er meinte, dass Marsfelds Frau einen Detektiv auf sAnne Marie ansetzte, und er hatte den Verdacht, dass die Ehefrau des Filmproduzenten gar nicht so sehr auf die Aufdeckung einer Affäre aus war, sondern vielmehr, Anne Marie etwas so Schwerwiegendes nachweisen zu können, damit sie richtig aus dem Verkehr gezogen werden konnte und damit sie ein für allemal weg von ihrem Mann war.

Sicher wusste er das nicht. Er hat aber viel mitbekommen, ist ein schlauer Kerl und hat einfach eins und eins zusammengezählt.

Tatsächlich hat er auch die Worte Umbringen und Auftragsmord benutzt … aber mehr im übertragenen Sinn, dass Greta die Konkurrentin dann wirklich los wäre. Altmann meinte, und ich hielt das, wie gesagt, eher für einen Scherz, dass sie wohl am liebsten einen Killer und keinen Detektiv auf die Frau ansetzen würde, um endlich vor ihr Ruhe zu haben bzw. sich nicht ständig anhören zu müssen, dass die Andere jünger, schöner und all das ist.

Eine Eigentümlichkeit meiner Nachforschungen war, dass vieles, was ich zu über Anne Marie de Vries, ihr Leben und ihre Persönlichkeit, zu hören bekam, nur Vermutungen waren. Also, dass sich Anne Marie tatsächlich bedroht fühlte, verfolgt. Sie hatte ja immer wieder Ärger wegen Drogen und wohl ab und zu auch als Kurierin für einen Drogenhändler gearbeitet. Sie hatte mit einem der Kerle aus dem Drogengeschäft eine Affäre. Eine größere Nummer soll der gewesen sein. Hieß es. Greta hat das mit den Drogen Ihren Kollegen gesteckt. Es gab auch Ärger mit den Drogenhändlern oder dieser Affäre. Warum auch immer. Eine Person wie Anne Marie im Geschäft mit Drogen, wo es auf Verlässlichkeit, genaue Planung, Timing ankommt, eine schone seltsame Vorstellung. War alles nicht gerade ihr Ding.

Das war laut Altmann ein, zwei Monate, bevor sie verschwunden ist und die Dreharbeiten für den neuen Film beginnen sollten. Die erste richtige Charakterrolle. Altmann hielt es sogar für möglich, dass Marsfeld sie versteckt hatte. Die Möglichkeiten und die Mittel dazu hat er. Vielleicht hoffte er, wenn Greta tatsächlich einen Auftragskiller auf Anne Marie angesetzt hatte, und dass sie nun denken musste, dass der Auftrag ausgeführt war und endlich Ruhe in dieser Angelegenheit herrschte.

werden.

Ein halbes Jahr nach Anne Maries Verschwinden war ich mit meinen Nachforschungen fast an dem Punkt in Anne Maries Leben angelangt, an dem ich mit meiner Suche begonnen hatte, mit ihrem Verschwinden und dem Artikel in der Zeitung. Ich wusste noch immer nicht viel, außer, dass es ein paar Leute gab, die sich zumindest über ihr Verschwinden freuen konnten. Und dass sich Anne Marie seit unserer Begegnung in der Schule nicht verändert hatte.

Es war eine Scheiß Situation. Ein halbes Jahr war sie schon verschwunden. Kein Mensch wusste, wo sie war. Wie in Luft aufgelöst. Wo konnte sie hin gegangen sein, wo sich verstecken, vorausgesetzt, es war ihr tatsächlich nichts geschehen?

Ich war drauf und dran, mit der Suche aufzuhören. Ich hatte schon eine Menge Zeit und Geld investiert und meine Freunde vernachlässigt. Zum Glück, muss ich sagen, hatte ich zu der Zeit keine Beziehung, die wäre sicherlich in die Brüche gegangen. Irgendwann kam ich drauf, wo ich weiter suchen konnte und ärgerte mich, dass mir das nicht schon früher eingefallen war. Beim nochmaligen Lesen aller Artikel, in der Hoffnung, irgendetwas übersehen zu haben, kam ich drauf. Die Agentin. Bernadette Römer. Nicht, dass ich von ihr den entscheidenden Hinweis erwartete, aber ein kleines Mosaiksteinchen, einen kleinen Hinweis auf das nächste Puzzlestückchen.

Die Agentin empfing mich mit einiger Skepsis, aber im Grunde war sie froh, dass sich jemand für Anne Maries Schicksal interessierte. Zunächst erzählte sie mir ausführlich, wie sie sie kennen gelernt und wie sich so etwas wie eine halbwegs tragfähige Arbeitsbeziehung aufgebaut hatte. Im Grunde hatte sie die gleichen Probleme wie all die anderen Personen, die mit Anne Marie zu tun hatten, egal, ob auf der persönlichen oder auf der Arbeitsebene.

Die Drogengeschichte und Affäre mit einem der Händler konnte Römer bestätigen. Geradezu lebensmüde habe sie diese Menschen herausgefordert. Voller Verachtung sprach Anne Marie von diesen Personen, sie verhöhnte sie und prahlte der Agentin gegenüber damit, wie sie sie ausnutzte. Ob das so stimmte, wusste die Römer natürlich nicht. Dass Anne Marie eine Menge Drogen konsumierte, sehr wohl.

Irgendwie half mir das nicht weiter und ich fragte die Agentin, ob ihr denn nicht irgendetwas aufgefallen war, ein besonderes Vorkommnis oder eine Person, die eine besondere Beziehung zu ihrer Schauspielerin hatte.

Römer verneinte zunächst, aber ich ließ nicht locker, forderte sie auf, nochmals und nochmals nachzudenken. Ich fürchtete, dass ich, wenn ich hier keinen weiteren Hinweis bekäme, meine Suche beenden musste. Gleichzeitig wünschte ich das auch.

Und dann fiel Bernadette Römer doch noch etwas ein. Sie hatte einen Streit zwischen Anne Marie und einem ihr unbekannten Mann beobachtet, gar nicht all zu lange, bevor sie verschwand. Sie hatte den Beginn der Auseinandersetzung nicht mitbekommen, aber es wurde ihr schnell klar, dass es um eine Liebschaft ging. Eigentlich nichts Besonderes, sie hatte so was bei Anne Marie schon oft erlebt. Aber, und das versetzte Römer in Staunen und das war das Besondere, es war Anne Marie, die den Mann aufforderte, sich zu ihr zu bekennen und nicht umgekehrt, wie sonst immer. Sie war offensichtlich verliebt. Römer lauschte, wie sie mir erzählte, gebannt dem Gespräch. Das ist zwar eigentlich nicht ihre Art, aber sie war fasziniert von dem Streit und wie er ausgetragen wurde. Denn Anne Marie konnte nicht heraus aus ihrer Haut. Sie bettelte um die Zuneigung des Mannes, schmiss sich an ihn heran, um ihn, als sie merkte, dass sie damit nicht weiterkam, von sich zu stoßen, zu beschimpfen und zu schlagen und plötzlich hielt sie ihm sogar ein Messer an die Kehle. Sie hatte einen Blick, der Römer das Schlimmste befürchten ließ. Sie schrie Anne Marie aus dem Fenster im zweiten Stock zu, dass die den Mann nicht verletzen solle. Das lenkte sie für einen kurzen Moment ab und der Mann war so geistesgegenwärtig , dass er sich von ihr lösen und fortlaufen konnte.

Ein groteskes Bild, erklärte mir Römer. Ein gar nicht mal attraktiver, aber kräftiger Kerl, lässt sich von dieser Frau so ins Bockshorn jagen. Von der Frau, die eigentlich was von ihm wollte.

Einige Stunden lang verharrte Anne Marie in dem Hof. Römer war zu ihr herunter gegangen, redete auf sie ein, versuchte sie beruhigen, aber sie reagierte nicht. Erst viel später, es regnete schon seit geraumer Zeit, kam sie völlig durchnässt ins Büro, setzte sich auf einen der Stühle im Besprechungszimmer und starrte stumpf vor sich hin, brummelte immer wieder irgendwelche kaum verständlichen Worte vor sich hin. Der Name „Sven“ fiel, dann verstand sie „Ingelheimer Idioten“, „Bekloppte Ideen“ und „Schwule Weltverbesserer“. Römer maß dem keine Bedeutung bei und ließ sie erst einmal alleine und ging in ihr Büro.

Dann stand Anne Marie unvermittelt vor ihrem Schreibtisch, ein völlig anderer Mensch, aufgeräumt, locker und redsam, so als wäre der Zwischenfall in dem Hof vor wenigen Stunden nie passiert. Sie sprach von dem neuen Film, von ihrer Rolle, wie sie sich darauf freue, von ihrem Leben, das sie ändern wolle. Als sei ein Schalter umgelegt worden.

Das war kurz vor ihrem Verschwinden.

Bernadette Römer hatte aber noch einen entscheidenden Hinweis. Nachdem Anne Marie gegangen war, fand die Agentin einen zerrissenen Zettel an der Stelle, wo ihre Schauspielerin so lange alleine gesessen hatte. Es waren Zahlen und Buchstaben darauf notiert, scheinbar ohne jeden Sinn. Ich bat sie, mir die Papierfetzen zu geben und breitete sie zu Hause auf einem Tisch vor mir aus, um den Sinn der Zahlen und Buchstaben zu verstehen.

Da auch ich den Worten, die Anne Marie vor sich hingeredet hatte, zunächst keine Bedeutung zugemessen hatte, brauchte es eine Weile, bis ich zwischen all dem einen Zusammenhang herstellen konnte. Der Name Sven war mir noch im Gedächtnis, die anderen Worte nicht. Und „Sven“ konnte ich aus den Fetzen zusammenlegen. Blieben noch die übrigen Buchstaben und Zahlen. Ich rief die Agentin an und sie nannte mir die anderen Begriffe. Und als mir aufging, dass sie mit „Ingelheimer Idioten“ den Ort gemeint haben könnte, suchte ich dessen Breiten- und Längengrade heraus. Tatsächlich gibt es einen rheinhessischen Ort, dessen Koordinaten sich mit den verbliebenen Zahlen und Buchstaben legen ließen, das heißt, die Koordinaten bezeichneten einen Punkt etwas außerhalb des Ortes, wenn ich die Karte richtig lasEs sah so aus, als läge er mitten im Wald.

Nun hatte mich das Jagdfieber vollends erwischt. Ich war mir sicher, dass ich auf richtigen Fährte war und versuchte aus den anderen Worten, die Bernadette Römer mir genannt hatte, einen Reim zu machen: „Bekloppte Ideen“, „Ingelheimer Idioten“ und „Schwule Weltverbesserer“.

Da ich nur spekulieren konnte, beschloss ich, nach Ingelheim zu fahren. Ich mietete mich in einer kleinen Pension ein und verbrachte den ersten Tag damit die Stadt zu erkunden, hielt meine Ohren offen, suchte die Kaiserpfalz wie andere Sehenswürdigkeiten der kleinen Stadt auf, in der Hoffnung, irgendwo einen Hinweis zu bekommen.

Am zweiten Tag lieh ich mir einen Motorroller und suchte mit Hilfe eines mobilen Navigationsgerätes die Koordinaten auf, die auf dem Zettel notiert waren. Ich war sehr gespannt, weil ich die Hoffnung hatte, hier Anne Marie zu treffen. Aber während der Fahrt wurde mir klar, dass ich gar nicht wusste, was ich machen oder sagen würde, wenn ich vor Anne Marie stand. Sie auf ihren Biss damals ansprechen, auf das, was in dem Keller geschehen war oder sie fragen, ob sie etwas mit dem Tod von Ruben zu tun hatte? Und wie sollte ich ein solches Gespräch beginnen? Der Gedanke blitzte in mir auf, dass es mir gar nicht um Anne Marie ging. Es ging mir um mich. Ich wollte etwas über mich erfahren, darüber, warum ich damals in dem Keller mitgetan hatte, etwas, dass ich ja jahrelang verdrängt hatte. Einige Momente lang war ich versucht umzukehren, den Roller abzugeben, meine Sachen zu packen und nach Hause zu fahren. Aber was dann? Ich hätte mir bewiesen, ein guter Detektiv zu sein, aber auch ein Feigling. Schließlich entschied ich mich weiter zu suchen und abzuwarten, was geschah, wenn ich ihr gegenüber stand.

Mein mobiles Navi führte mich über eine schmale, sich den Berg hochschlängelnde Straße zwischen Weinbergen und Waldstücken an einem Gehöft vorbei. Was sollte Anne Marie hier tun? Warum dieser Ort, der so gar nicht zu ihr passte? Große Städte, mondäne Orte, das war es, was ich mit ihr in Verbindung brachte. Aber nicht diese Natur, Wiesen, Weiden, Wein, Wälder. Immer wieder blieb ich stehen und sah auf das Navi. Es war eindeutig. Ich näherte mich dem Ort, den die Koordinaten auf dem Zettel, den Anne Marie bei ihrer Agentin zerrissen zurückgelassen hatte. Aber was wollte sie hier?

Langsam fuhr ich weiter, rechts und links Felder, bis sich der Weg vor einem dicht bewachsenen Wald gabelte. Ich vergewisserte noch einmal auf dem Navi, dass ich richtig war. Vielleicht war meine Schlussfolgerung, dass es sich bei den Ziffern und Buchstaben um Koordinaten handelte, schlichtweg falsch gewesen. Trotzdem wollte ich wissen was sich an dem bezeichneten Punkt befand. Also nahm ich den Weg nach links, der nun bergab führte, links eine Weide und rechts das undurchdringliche Grün des Waldes. Ich fuhr sehr langsam, Schritttempo, immer den Blick auch auf das Navo gerichtet. Rechts von dem Weg lag noch immer der Wald. Als der Weg wieder flacher wurde, breiteten sich Weinberge vor mir aus. Dahinter war ein weites Tal. Laut Navi musste ich nun nach links in den Wald hinein. Ich fuhr solange mit dem Roller, wie das auf dem unbefestigten und von Gras bewachsenen Weg möglich war, dann stellte ich mein Fahrgerät ab und ging zu Fuß weiter. Immer tiefer drang ich in das dichte Grün vor, Bäume und Büsche standen immer enger beieinander. Irgendwann hatte sich auch das, was vorher der Weg gewesen war, aufgelöst. Dann zeigte mir mein Gerät an, dass ich den bezeichneten Punkt erreicht haben musste. Aber da war nichts. Bäume und Büsche, Fliegen, die mich lästig umschwirrten, aber sonst nichts. Ich drehte mich um meine eigene Achse. Dann erst erkannte ich ich auf einer leichten Anhöhe vor mir eine Hütte. Sie war flach und fügte sich fast unsichtbar in die umgebende Landschaft ein. Ich ging näher heran. Die Hütte machte einen verlassenen Eindruck. Ich wartete und horchte, dann ging ich die drei Holzstufen zu der Eingangstür langsam hoch und lauschte zunächst auf Geräusche aus dem Innern. Aber alles, was ich hörte, waren die Geräusche des Waldes um mich herum. Nach ein paar Sekunden klopfte ich an die Holztür, erst zaghaft, dann fester, aber ich erhielt keine Antwort. Ein Gang um die Hütte, die eine Grundfläche von etwa acht mal vier Meter hatte und aus einem Stockwerk bestand, verstärkte meinen Eindruck, dass sie verlassen war. Die Holzläden vor den Fenstern waren geschlossen, aber nur angelehnt. Ich öffnete einen der Läden, die Scheibe dahinter war so verschmutzt, dass ich im Innern der Hütte nur schemenhaft Gegenstände erkennen konnte. Auf der Rückseite befand sich ein verschlossener Schuppen. Ich ging zurück zur Eingangstür und drückte sie auf. Mit einem leisen Quietschen schwang sie nach innen auf. Abgestandene Luft, feucht und modrig, schlug mir entgegen, als ich in den dunklen Raum trat. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das trübe Licht. Ich tastete mich vorwärts und stieß immer wieder gegen die herum stehenden und -liegenden Gegenstände, bis ich eines der Fenster erreicht hatte und es öffnete. Der Durchzug wehte eine frische Brise in den Raum. Ich atmete durch und sah mich um. Tische und Stühle lagen umgeworfen auf dem Boden, aus einem Holzschrank, der an der Wand stand, waren die Schubladen herausgerissen worden. Der Boden war übersät mit Kleinkram, besonders viel Elektronik wie Kabel, Adapter, Reste von Ladegeräten, ein zersplitterter Monitor. Zwei Türen gingen von diesem Raum ab. Der eine führte in einen kleinen Raum in dem Decken und zwei kleine aufgebrochene Spinde herumlagen. Mehrere zerrissene Hängematten hingen von den Wänden Hinter der anderen Tür lag eine Art Küche, zumindest ließen die Gegenstände, die hier herum lagen, darauf schließen. Ein Gasbrenner, eine Elektrokochplatte, Teller und Tassen, alles auf engstem Raum, auch hier das meiste zerstört. Von diesem Raum ging eine weitere Tür ab. Ich vermutete dahinter den Schuppen, den ich von außen nicht hatte öffnen können. Es drang nur wenig Licht hinein. Ich erkannte Reste eines Geräts, das zu besseren Zeiten wohl mal ein Generator gewesen war. Ich sah mich einige Minuten lang um, hob verschiedene Gegenstände auf, betrachtete sie und konnte mir auf all das keinen Reim machen. Das alles erinnerte mich an eine geheime Funkstation, wie man sie aus Kriegs- oder Agentenfilmen kannte, nur primitiver. Aber wer wollte hier was mit einer Funkstation?

In der Hütte konnte ich dieses Rätsel nicht lösen und ich begab mich wieder nach draußen, suchte die Umgebung weiter ab und entdeckte bei genauerem Hinschauen weitere Teile, die eigentlich in die Hütte gehörten sowie eine sehr große Anzahl von abgebrochenen Ästen und Zweigen, die mir beim Kommen nicht aufgefallen waren.

Mehr als drei Stunden blieb ich da draußen, und ich spürte die Wut in mir aufsteigen, dass ich zwar diese Hütte gefunden hatte, aber auch nicht mehr wusste. Was war hier passiert? Was hat Anne Marie damit zu tun? Wie ist der Zettel mit den Koordinaten in ihre Hände gelangt? Was hatten die anderen Worte, die sie bei der Römer vor sich hin gebrabbelt hatte, mit dem hier zu tun? War das vielleicht alles nur ein Scherz? Das glaubte ich zwar nicht, aber ich kam mir verarscht vor, an der Nase herumgeführt und war einfach sauer

Ich ging zurück zu dem Roller, startete den Motor und fuhr los, dabei beide Füße dicht über dem Boden, weil ich fürchtete, auf dem feuchten und matschigen Gras auszurutschen. Erst als ich den befestigten Weg wieder erreicht hatte, konnte ich meine Füße auf die Trittbretter stellen. Ich war von links gekommen, aber der Weg führte auch nach rechts weiter durch die Weinberge ins Tal. Ich beschloss, für den Rückweg diesen Weg zu nehmen. Vielleicht fand ich ja noch irgendeinen klitzekleinen Hinweis. Den fand ich natürlich nicht und war entsprechend frustriert. In die Pension wollte ich noch nicht, daher ließ ich mich treiben und fuhr ziellos umher, bis ich irgendwann an den Rhein kam. Neben einer Fährstelle gab es auch einen Gastronomiebetrieb. Ich stellte meinen fahrbaren Untersatz ab und bestellte mir ein Bier und Würstchen. Ich musste runterkommen und mir klar werden, ob es noch Sinn machte, hier weiter herumzusuchen.

Nachdem ich das große Bier gut zur Hälfte ausgetrunken hatte, fühlte ich mich schon ein wenig besser und konnte wieder etwas klarer denken. Und damit kamen auch die Fragen wieder. Hatte Anne Marie sich hier versteckt? Aber woher kannte sie dann diesen Ort? War sie alleine in dieser Hütte gewesen? Was hatten dann aber die ganzen technischen Geräte dort zu suchen, wer hatte sie zerstört? Zu viele Fragen und keine Antworten.

Nach und nach füllten sich die Tische und Bänke um mich herum. Bald saßen auch fremde Menschen direkt neben mir und wie das dann so ist, kam ich mit meinen neuen Nachbarn ins Gespräch.

Ich hatte mittlerweile zwei große Bier getrunken und ein drittes vor mir stehen, mich beruhigt und so viel Mut, dass ich einen Mann, der neben mir saß, vorsichtig nach der Hütte fragte. Obwohl er, wie er mir sagte, gerne und viel spazieren ging, war ihm die Existenz dieser Hütte nicht bekannt. Allerdings schränkte er ein, dass er auch nur selten die Wanderwege verließ. Bis ich den Biergarten gegen einundzwanzig Uhr verließ, hatte ich noch drei weitere Personen befragt, aber keine von ihnen wusste von der Existenz der Hütte. Auch hatte niemand Anne Marie, die ja durch ihre Film- und Fernsehpräsenz eine gewisse Prominenz besaß, im Ort oder in der Umgebung gesehen.

Wieder niedergeschlagen machte ich mich auf den Rückweg in die Pension und hatte Glück, dass ich mit dem Roller nicht stürzte, als ich in einer Kurve einen Stein übersah.

Im Bett überkamen mich wieder die Zweifel und ich schwankte, ob ich dieses irrsinnige Unternehmen aufgeben oder weitermachen sollte. Aber wo als in der Hütte sollte ich meine Suche fortsetzen? Ich lag noch lange wach und hatte mich schließlich entschieden, am nächsten Tag noch einmal in das Waldstück zu fahren und zu schauen, ob ich doch nicht etwas übersehen hatte.

Ich startete am nächsten Morgen nach dem Frühstück den Roller und fuhr durch die Weinberge zu dem Waldstück. In der Nacht hatte es geregnet, deshalb kam ich mehrmals arg ins Schleudern und nur mit Glück ohne zu stürzen zu dem Wald und der Stelle, wo ich mein Fahrzeug schon gestern abgestellt hatte.

Ich hatte eine Taschenlampe bei mir und fand unterwegs einen stabilen Ast, der mir als Waffe geeignet schien. Irgendwie war ich beunruhigt und das Stück Holz gab mir ein klein wenig Sicherheit.

Ich hatte kaum fünfhundert Meter zurückgelegt, da zog sich der bis dahin blaue Himmel zusammen und nach wenigen Minuten begann es zu regnen. Erst nur einzelne Tropfen, dann wurde der Niederschlag immer heftiger. Ich war völlig durchnässt, als ich die Hütte mit Hilfe des mobilen Navis wieder gefunden hatte.

Ich wollte gerade meinen Fuß auf die unterste Treppenstufe stellen, da hörte ich aus dem Inneren der Hütte ein Geräusch. Schnell zog ich mich zurück, stellte mich hinter den mächtigen Stamm eines Baumes und beobachtete von dort die Hütte und deren Umgebung. Eine halbe Stunde lang passierte nichts, nur ab und zu drang ein leises Geräusch bis zu mir nach draußen, als ob jemand im Innern Gegenstände hin und her schieben würde. Mir schien auch, dass der Kleinkram, der gestern noch vereinzelt vor der Hütte gelegen hatte, verschwunden war.

Was sollte ich machen? War es am Ende Anne Marie, die da in der Hütte war? Irgendetwas hielt mich davon ab, sofort in den Eingang zu treten und nachzuschauen. Ich harrte eine weitere Stunde hinter dem Baum aus, dann stand mit einem Mal ein bärtiger und kräftiger Mann mit einem Arbeitsanzug bekleidet vor der Tür Er sah sich kurz um und verschwand gleich wieder im Innern der Hütte. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber so eine Art Rübezahl hier zu treffen, war mir nicht in den Sinn gekommen. Langsam kam ich aus meinem Versteck hervor und stieg die Stufen zu dem Eingang empor.

Urplötzlich stand der bärtige Mann in der Tür, sah mich kurz an, schwang einen Knüppel und schlug mir meinen Stock, den ich zur Abwehr erhoben hatte, aus der Hand. Das ging so schnell, dass ich mich nicht wehren konnte. Der Fremde packte mich und drückte mich gegen eine Wand.

Was ich hier suche, wollte er wissen, sein Gesicht direkt vor meinem. Ich spürte, dass ich gegen die Kraft dieses Kerls keine Chance hatte.

Ich erklärte ihm mit stockenden Worten, dass ich die Schauspielerin Anne Marie de Vries suche. Der Bärtige sah mich verwundert an und lockerte darauf seinen Griff.

Gibt’s hier nicht, sagte er schließlich. Du lügst doch.

Nein, beteuerte ich und überlegte, wie viel und mit wie wenig Worten ich diesem Menschen erklären konnte, warum ich hier war.

Endlich ließ er mich los und befahl mir mich auf den Boden zu setzen. Dann griff er in die Seitentasche seiner Hose und entnahm ihr eine Flasche, drehte den Verschluss auf und reichte sie mir.

Trink!, forderte er mich auf.

Ein Schnaps. Schmeckte nach Apfel und brannte mächtig im Hals.

Ich gab ihm die Flasche zurück und er nahm einen langen Zug.

Was ist hier passiert?, fragte ich ihn, nachdem er die Flasche wieder in seinem Hosentasche verstaut hatte.

Suchst Du wirklich die Schauspielerin?, wollte er wissen, statt zu antworten.

Ich nickte, dachte einen Moment, während wir beide schwiegen, nach und kam zu dem Schluss, dass ich diesem fremden Mann einfach die Geschichte meiner Suche und wie ich hergekommen war, erzählen würde.

Doch der Riese stand unvermittelt auf und forderte mich mit einer Handbewegung auf, es ihm gleich zu tun. Er ging in die Hütte, ich folgte ihm und stellte völlig überrascht fest, dass sie völlig ausgeräumt war.

Haben Sie aufgeräumt?, fragte ich, während ich umher ging.

Er stand am Eingang und schüttelte den Kopf.

Wer dann, wollte ich wissen. Es konnte doch nicht sein, dass sich innerhalb einer Nacht hier alles in Luft auflöste. Einfach so.

Er sei lange Zeit unterwegs gewesen, sagte der Bärtige monoton.

Ich sah mich noch einmal um, dann ging ich vor die Hütte, wo ich den Mann auf dem Boden sitzend vorfand. Ich nahm ihm gegenüber Platz, wartete einige Augenblicke und erzählte ihm dann, wie ich es eben schon vorgehabt hatte, die Geschichte meiner Suche nach Anne Marie de Vries und wie ich hierher gekommen war.

Er hörte mir gespannt zu, nickte nur ab und zu und stellte keine Zwischenfragen. Dann kramte er seine Flasche erneut hervor, öffnete den Drehverschluss mit einer Hand, reichte erst mir die Flasche und nahm dann selbst wieder einen langen Zug.

Nachdem er die Flasche wieder verschlossen hatte, begann er zu erzählen, was er von dieser Hütte und ihrer Geschichte wusste.

Gregor, so hieß der Mann, war ein umher ziehender Gelegenheitsarbeiter, der Jobs im Wald annahm und sich diese Hütte irgendwann selbst gebaut hatte, um darin zu übernachten, wenn er in der Nähe war. Irgendwann, er wusste nicht mehr, wann das war, war die Hütte plötzlich besetzt. Sieben junge Männer hatten sich einquartiert und lebten dort, als würden sie sich vor etwas verstecken. Nur auf Umwegen verließen sie den Wald, um in einiger Entfernung Vorräte zu kaufen. Immer mehr technische Geräte brachten sie an, bauten aus Einzelteilen einen Generator, montierten Antennen unterhalb der Baumwipfel und verließen ansonsten die Hütte nur, um ihre Notdurft im Wald zu verrichten. Tag und Nacht wurde in der Hütte gearbeitet.

Irgendwann kam es zu einer Begegnung von Gregor mit einem der jungen Männer aus der Hütte, der den Waldarbeiter angriff, aber keine Chance gegen ihn hatte. Gregor brachte den Verletzten zu den anderen und sie klärten ihn, nachdem man Vertrauen zueinander gefunden hatte, darüber auf, dass sie sich als Internet-Aktivisten und Globalisierungsgegner betrachteten, die von diesem Stützpunkt aus ihre Angriffe über das weltweite Netz starteten, Banken lahm legten, Kreditkartenunternehmen blockierten, in die Rechner von staatlichen, militärischen und wirtschaftlichen Organisationen eindrangen und sich brisante Informationen verschafften, um sie auf Umwegen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Er versprach ihnen, sie nicht zu verraten und übernachtete, wenn er in der Gegend war, bei ihnen in der Hütte. Er konnte ihnen zudem einiges über das Leben im Wald beibringen und versorgte sie mit Wild, das er erlegte, und Früchten, die er im Wald sammelte.

Das ging nach seinem Bericht eine ganze Zeit lang gut, bis diese Frau auftauchte. Ich horchte auf und nahm Anne Maries Photos aus meiner Tasche und zeigte es Gregor, der es ausgiebig betrachtete und dabei seinen Kopf wiegte. Schließlich nickte er, sagte aber, dass sie anders ausgesehen habe, fast wie ein Mann, die Haare ganz kurz und nicht geschminkt. Und dass sie von allen Andreij gerufen wurde. Das ist doch ein Männername, oder?, fragte Gregor mich, was ich ihm bejahte.

Warum sie in die Hütte kam, wie sie davon erfahren hatte, das wusste der Waldarbeiter nicht. Aber ihm war gleich klar gewesen, dass sie sich hier versteckte und dass sie Angst hatte.

Sie blieb lange dort. Gregor spürte, dass die Spannungen zwischen den Männern zunahmen, weil die einen sie lieber heute als morgen losgeworden wären, während die anderen um sie buhlten. Und sie selbst nutzte das aus und spielte mit ihnen. Es gab immer öfters Streit untereinander, auch handgreiflichen, bis die Frau genug hatte und abhaute. Aber ein paar Tage später war sie wieder da. Sie wirkte fertig und Gregor hatte einmal mitbekommen, wie sie erzählte, dass jemand sie umbringen wollte und dass die Hexe alles daran setzte, sie loszuwerden. Sie zog sich zurück, war oft stundenlang alleine im Wald, aber die Spannungen und Streitereien nahmen von Tag zu Tag zu. Nun wurde es richtig schlimm. Einer der jungen Männer, es war nach Gregor der, der Donnerstag gerufen wurde, schlug sie auch, woraufhin sie ihm eine Gabel in die Wange jagte. Von da waren es noch ein paar Tage, bevor sie endgültig verschwand. Dieses Mal kam sie nicht wieder. Kurz darauf rückte die Polizei an, nahm die Hütte auseinander und transportierte alle technischen Geräte weg. Der Waldarbeiter hatte das von einem sicheren Posten aus beobachtet. Vier der sieben Männer wurden von der Polizei festgenommen, die anderen drei waren entweder gerade nicht in oder nahe bei der Hütte oder konnten fliehen.

Nachdem Gregor mit seinem Bericht fertig war, gab es wieder einen Schluck aus der Flasche. Wir tranken und schwiegen.

Eine Weile saßen wir so da, ab und zu reichte mir Gregor die Flasche. Schließlich wollte ich von Gregor wissen, ob er die Namen der Männer, die hier gewohnt hatten kannte.

Er lachte mich durch seinen dichten Bart hindurch an.

Warum er lache, wollte ich wissen, die Frage war ja sehr nahe liegend, wenn ich weiter nach Anne Marie suchte.

Weil die jungen Leute, wie er sagte, sich nach Wochentagen nannten. Der eine hieß Montag, der nächste Dienstag und so weiter bis zum siebten, der Sonntag gerufen wurde. Ich dachte an den Film „Reservoir Dogs“, wo die Gangster sich nach Farben benannt hatten.

Ob er dennoch nicht irgendwie die richtigen Namen erfahren habe, insistierte ich weiter. Ich brauchte mindestens einen Namen, um weiter suchen zu können und vielleicht zu erfahren, wie Anne Marie, oder Andreij, wie sie sich hier genannt hatte, von dem Versteck der Globalisierungsgegner im Wald erfahren hatte und ob sie sich tatsächlich so vor Greta fürchtete.

Ich fragte Gregor, ob er mit dem Namen „Sven“ etwas anfangen könne. Wieder dieses hintersinnige Lächeln aus dem Bart.

Klar kenne er die Namen, sagte er schließlich. Die jungen Leute hätten ihn für einen Waldmenschen gehalten, der gut in der Natur überleben könne, aber auch ein wenig unterbelichtet sei. Genau das Wort verwendete er. „Unterbelichtet.“ Und lächelte erneut.

Nicht von allen wisse er die Namen, aber von vieren. Dieser Sven heiße Neuhaus mit Nachnamen. Er war einer von denen, die die Polizei in der Hütte festsetzen konnte. Zwei andere, die der Polizei dort ins Netz gingen, kannte er ebenfalls. Roland Keppler und ein Christian Diepgen. Der vierte, Alex Marker, war nicht im Gewahrsam der Polizei.

Gregor wusste, dass Alex in Frankfurt am Main lebte. Nicht viel, aber ich hoffte, dass die Angaben reichen würden, ihn zu finden. Ich stellte es mir nämlich sehr, sehr schwierig vor, eine Besuchs- und Gesprächsgenehmigung im Gefängnis auch nur für einen der drei zu erhalten.

Ich unterhielt mich noch etwa eine Stunde mit Gregor, der mir weitere Anekdoten und Einzelheiten von dem Leben in der Hütte erzählte. Von Anne Marie, die sich hier Andreij nannte, wusste er allerdings nichts Neues zu berichten. Sie war ihm mit ihren Eskapaden, ihrer Egozentrik und Wahn zuwider. Deshalb blieb er stets auf Distanz zu ihr. Wie sie übrigens auch keine Versuche machte, mit ihm mehr als den allernötigsten Kontakt aufzunehmen.

Noch am gleichen Tag fuhr ich nach Frankfurt und begann die Suche nach diesem Alex. Immerhin kannte ich seinen richtigen und kompletten Namen und wusste von Gregor, was sein Spezialgebiet innerhalb der Gruppe war.

Mehrere Tage dauerte es es bis ich diesen Alex gefunden hatte. Zunächst leugnete er, der Gesuchte zu sein, aber nachdem ich ihm versichert hatte, nicht von der Polizei zu sein und mir die Sache im Wald und in der Hütte völlig egal waren und mich allein Anne Marie bzw. Andreij interessierte, fasste er Vertrauen zu mir.

Zunächst wartete Alex mit einer dicken Überraschung auf. Sven Neuhaus ist der Sohn aus Greta Bauers erster Ehe, der bei seinem Vater aufwuchs und deshalb nur sporadisch Kontakt zu Marsfeld hatte. Trotzdem bekam er den Stress mit, den der wegen Anne Marie mit seiner neuer Frau, eben seiner Mutter, hatte. Anne Marie verliebte sich in Sven, der ihre Gefühle aber nicht erwiderte. Es kam zu jenem Streit im Hof bei Bernadette Römer. Danach steigerte sich Anne Marie immer mehr in ihre Angst vor Marsfelds Frau, die ihr dann zu allem Überfluss auch die Drogenfahndung auf den Hals hetzte, um sie endgültig loszuwerden. Obwohl Sven wusste, dass es ein Fehler war, brachte er Anne Marie mit in die Hütte, allerdings ohne die anderen vorab zu informieren, was von denen natürlich nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen wurde.

Sven führte Anne Marie als Andreij Salou im Kreis dieser Globalisierungsgegner ein. Durch einen neuen, kurzen Haarschnitt und die Kleidung verstärkte sie das Androgyne, das sie ohnehin schon besaß. Dennoch war bald allen klar, dass es sich bei dieser Person ganz eindeutig um eine Frau handelte.

Das Verhältnis der Sieben untereinander wurde immer angespannter, zumal sich Anne Marie alias Andreij vielleicht erhofft hatte, dass Svens Hilfe ein Zeichen seiner Liebe sei. Oder dass er sich zumindest in sie verlieben würde, wenn sie so eng beieinander lebten. Alle in der Hütte litten unter dem Streit, erzählte Alex, und Anne Marie war es völlig egal, ob sie damit die Arbeit der anderen gefährdete oder nicht. Sie zog ihr Ding durch. Wie sie es immer getan hatte, pflichtete ich Alex bei.

Es kam noch schlimmer, erklärte der mit bitterer Miene. Weil sie nicht bekam, was sie wollte, verriet sie am Ende die Gruppe und nannte der Polizei das Versteck im Wald. Sie war natürlich nicht da, als die Polizei die Hütte stürmte.

Alex hatte einen ziemlich Hals auf Anne Marie und ich überlegte, was sie überhaupt noch machen konnte. Wo sie hinkam und wo sie wegging, hinterließ Anne Marie verbrannte Erde. So, als wolle sie sich selbst zerstören. Und irgendwie konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie auch mich in ihren Strudel der Zerstörung hineinzog. Denn als ich das nächste Mal in meine Wohnung kam, fand ich nicht nur eine Mahnung der Bank vor, mein völlig überzogenes Konto umgehend auszugleichen, sondern auch eine Kündigung meines Arbeitgebers, weil ich mehrere zugesagte Aufträge nicht erfüllt hatte.

Halbherzig schrieb ich ihm zurück, dass ich an einer irren Geschichte über eine verschwundene Schauspielerin recherchiere, im Moment aber nicht mehr sagen könne. Ich bekam keine Antwort darauf. Die Bankangelegenheit ließ ich erst einmal schleifen, denn ich hatte tatsächlich meinen Dispo bis ans Limit ausgenutzt und im Moment wenig Aussicht ihn ausgleichen zu können. Immerhin war die Miete für diesen Monat schon gezahlt, wie ich mit einem gewissen Sarkasmus feststellte. Mir wurde erst jetzt bewusst, wie sehr ich mein Leben an das von Anne Marie de Vries gekoppelt hatte, wie sie auch mich, ohne dass ich das wollte, wieder in ihren Bann gezogen hatte.

Ich hätte an diesem Punkt einen Schlussstrich ziehen und mich mit dem zufrieden geben können, was ich herausgefunden hatte, aber es ging nicht. Wie ein Junkie musste ich weitersuchen.

Die Zeitungen hatten ihr Interesse an Anne Marie verloren. Es gab kaum noch Nachrichten über sie, wenn, dann eine kurze Meldung unter Vermischtes. Ich rief in mehreren Redaktionen an und bot ihnen meine Story an, aber ihr Interesse mäßig zu nennen, wäre schon eine maßlose Übertreibung.

Dann rief ich die Personen, mit denen ich im Zuge meiner Recherchen gesprochen hatte, noch einmal an, um sie zu fragen, ob sie in der Zwischenzeit etwas von Anne Marie gehört hatten – zumindest meldete ich mich bei denjenigen, von denen ich erwarten konnte, dass sie mit mir sprechen würden. Überall das Gleiche, keine Spur von der Frau. Bernadette Römer suchte ich persönlich noch einmal auf, um ihr zu erzählen, was es mit dem Zettel und den darauf befindlichen Zahlen und Buchstaben auf sich hatte. Sie bedachte mich mit Blicken, die mich sehr verwunderten und begegnete mir, anders als bei unserem ersten Treffen, mit Misstrauen.

Als ich sie darauf ansprach, wollte sie erst nicht so richtig heraus mit der Sprache, aber ich drängte sie. Schließlich gab sie mir einen Wink, ihr zu folgen. Römer dirigierte mich ins Bad und zeigte auf den Spiegel. Im ersten Moment wusste ich nicht, was sie meinte, dann machte ich einen Schritt vor – und erschrak. Was ich da sah, hatte nur noch wenig mit dem Menschen zu tun, der mir sonst für gewöhnlich entgegensah. Tiefe Falten und Tränensäcke ließen mich um Jahre gealtert aussehen, dazu kamen meine ungewaschenen Haare und ein seit Tagen nicht mehr rasiertes Gesicht. Mein Hemd, das ich seit Tagen trug, war fleckig und an einer Stelle sogar eingerissen. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich mich in dieser Weise vernachlässigt hatte. Aber, um ehrlich zu sein, so richtig schockte mich das auch nicht.

Als ich das Büro der Schauspielagentin verlassen hatte, wusste ich nicht mehr als vorher über den Verbleib Anne Maries, aber ich hatte beschlossen, noch einmal zu der Hütte zu fahren. Warum ich das machte, ich weiß es nicht. Vielleicht aus einer gewissen Verzweiflung, weil ich sonst keinen Anhaltspunkt mehr hatte. Das war der letzte Ort, an dem sie gesehen worden war, also konnte es auch nur dort auch einen Hinweis geben. Wenn überhaupt.

Bei einem Bekannten, der mich noch entsetzter als die Römer ansah, konnte ich mir Geld für eine Bahnkarte leihen. Ich glaube, es war ein Akt des Mitleids. Am Bahnhof in Ingelheim lieh ich mir ein Fahrrad, das sparte Geld. Zeit hatte ich ja genug.

Den Weg wusste ich mittlerweile auswendig und brauchte mein mobiles Navigationsgerät nicht mehr. Ich nahm den Weg, den ich das erste Mal gekommen war, musste mehrmals, wenn mir der Anstieg zu anstrengend wurde, absteigen und hatte endlich, verschwitzt und erschöpft, die Höhe erreicht. Ich radelte an dem großen Gehöft und den Weiden vorbei, bis ich die Stelle erreicht hatte, an der der Weg gabelte. Hier machte sich der Regen, der auch in den letzten Tagen immer wieder niedergegangen war, bemerkbar. Der Weg war noch feucht und teilweise matschig. Dies wurde mir auf der Fahrt den Weg hinunter zu der Stelle, wo ich den Roller bei meinen vorherigen Besuchen abgestellt hatte, zum Verhängnis. Ich betätigte versehentlich nur die Vorderbremse und lag, bevor ich überhaupt reagieren konnte, auf dem Boden. Zum Glück war ich nicht schnell gefahren und nicht ernsthaft verletzt.

Trotzdem blieb ich einige Momente liegen, bevor ich mich aufsetzte und mich umsah. Dabei fiel mir auf, dass sich links von mir ein nicht sehr hoher Zaun mit einem kleinen Tor befand und dahinter, verdeckt von einem Baum, eine kleine Hütte. Sie war mir vorher nicht aufgefallen. Und dann, als ich mich weiter umsah, fiel mir noch etwas anderes auf. Das Endstück eines Kabels mit einem USB-Anschluss lag direkt neben dem Tor.

Ich ließ das Fahrrad liegen, rappelte mich auf. Dabei bemerkte ich, dass mir bei dem Sturz mein mobiles Navi aus der Tasche gefallen war. Ich aktivierte es, um zu prüfen, ob es durch den Aufprall beschädigt worden war. Zum Glück war alles in Ordnung. Es zeigte mir die exakten Längen- und Breitengrade der Hütte. Ich ließ das Gerät in meine Tasche gleiten und ging die zwei Schritte zu dem Holzverschlag. Nach mehreren Versuchen hatte ich das Tor geöffnet. Die Hütte war nicht groß, vielleicht vier mal zwei Meter. Die Tür war mit einem Vorhängeschloss verschlossen, Fenster gab es keine. Ich umrundete die Hütte einmal und entdeckte erst dann, dass sich neben der Tür über den Rest der Vorderseite ein etwa fünfzig Zentimeter hoher Schlitz befand, der mit einer Holzklappe verschlossen war. Ich stellte mich auf die Bank, die vor der Hütte stand und versuchte die Klappe zu öffnen, was mir nicht gelingen wollte. Erst mit Hilfe der Klinge meines Taschenmessers, die ich in den schmalen Schlitz zwischen der Wand der Hütte und der Klappe steckte und als Hebel benutzte, gelang es mir, die Klappe zu öffnen. Sie war schwer und ich brauchte ein wenig Zeit, bis ich sie so weit geöffnet hatte, dass ich hineinschauen konnte. Was ich dann sah, verschlug mir den Atem. Ich war am Ziel, aber so etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich hatte mit vielem in Bezug auf Anne Marie gerechnet, aber dieses Bild verschlug mir den Atem.

Jetzt würde ich sie wirklich nie mehr vergessen können!